Maya and Aztec

Ancient Mesoamerican civilizations

Das Ideal wandelt sich

Category: Alt-Mexico und seine Kunst

So „barbarisch“, skrupellos und leidenschaftlich uns dieses Volk im 14. und 15. Jahrhundert begegnet, so selbstbeherrscht und kultiviert finden wir es kurz vor der Eroberung. Das Ideal des aufbrausenden und brutalen Kriegers wird abgelöst durch das eines verständigen und gütigen Menschen. Auch diese Wandlung ist ohne den geistigen Einfluß der verbündeten Stadt Texcoco undenkbar. Nicht nur in der Rechtsprechung, den Künsten und der Architektur, sondern vor allem in der Philosophie zeigen sich auch große Errungenschaften, die die aztekische Kultur den Hochkulturen der „Alten Welt“ gleichstellen. „Bedenke, Herr, daß du von nun an auf einem hohen Kamm schreitest, auf einem schmalen Pfad, zu dessen Seiten ein tiefer Abgrund liegt… Sei mäßig in der Ausübung der Macht, zeige weder Zähne noch Krallen … Dein Volk steht im Schutz deines Schattens. Du mußt dir jetzt das Herz eines besonnenen Greises schaffen.

Liefere dich nicht den Frauen aus … Glaube nicht, Herr, daß die Matte und das Stirnband der Könige (die Spanier bezeichneten die aztekischen Herrscher als Könige) nur zum Vergnügen und zur Entspannung da sind, sondern im Gegenteil nur Arbeit und Kümmernis und Sorge bereiten.“ Diese und ähnliche Belehrungen mußte sich der junge Moctezuma von den Älteren sagen lassen. Aber nicht nur der Kaiser selbst, sondern auch die Söhne anderer hochgestellter Persönlichkeiten erfuhren weise Ermahnungen. Fast könnte man die von Pater Olmos gesammelten Anstandsregeln als den „aztekischen Knigge“ bezeichnen:

„Stürz dich nicht auf Frauen, wie der Hund auf sein Fressen.

Sprich nicht zu rasch, erhitz dich nicht dabei …

Bewahre einen gemäßigten Ton, weder zu hoch noch zu tief.

Deine Ausdrucksweise sei sanft und heiter.

Wenn du etwas siehst und hörst,

besonders, was von Übel ist,

so laß dir nichts anmerken und sei schweigsam.

Laß dich nicht zweimal rufen, antworte gleich beim erstenmal.

Gehe ruhig auf den Straßen, weder zu schnell noch zu langsam …

Laß den Kopf nicht nach vorne herunter oder auf die Seite hängen.

Schau nicht dauernd nach rechts oder links, sonst wird man dir sagen: du seist dumm, unerzogen und zuchtlos.

Iß bei Tisch nicht zu rasch und unbeherrscht, nimm nicht zu große Bissen, vermeide, dir den Mund vollzustopfen, und verschling nicht wie ein Hund die Speisen.

Zerstückle den Kuchen nicht,

noch beuge dich gierig über deinen Teller,

Iß gelassen, daß andere nicht über dich lachen.

Wasch dir vor dem Essen Mund und Hände, und tue des gleichen nach der Mahlzeit …

Mach beim Essen keine Grimassen, iß geräuschlos und sorgfältig …

Unterlasse schlürfende Geräusche beim Trinken, du bist ja kein kleiner Hund …

Huste und spucke nicht

und hüte dich, die Kleider

des Nachbarn zu beschmutzen.“

Diese und andere Ermahnungen, „die Vorschriften der Älteren“ (ueuetlatolli), zeigen das Streben dieser „Parvenüs“ – wie H. D. Disselhoff die Azteken so trefflich bezeichnete – nach einer höheren Kulturstufe. Sie umreißen das Bild dieser schnell gewachsenen Kultur, die leider im Frühsommer ihres Daseins ein abruptes Ende fand. Die Höflichkeit, insbesondere Fremden und alten Personen gegenüber, hat sich bei den ländlichen Indios noch bis auf den heutigen Tag erhalten, während die großen Fähigkeiten der namenlosen Künstler und Baumeister mit der Ausmerzung der einheimischen Religion verlorengingen. (Fast auf dem ganzen Kontinent ist uns kaum ein eigenständiges Werk eines indianischen Künstlers aus der spanischen Kolonialepoche bekannt. In der Republik Mexiko erlangte erst in unserem Jahrhundert ein reinblütiger indianischer Maler, Rufino Tamayo, Weltgeltung).


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