Maya and Aztec

Ancient Mesoamerican civilizations

Das Bildnis als Verkörperung einer Idee

Category: Alt-Mexico und seine Kunst

Um die Konzeption und das Schema der aztekischen Kunst zu beschreiben, gibt es wohl kein besseres Beispiel,  deutlichere Sprache spricht, als das Bildnis der Erdgöttin Coatlicue. „Die Göttin mit dem Schlangen-rock“, Ursymbol der Zwiespältigkeit allen menschlichen Lebens, ist die alles Gebärende wie alles Vernich­tende. Sie verkörpert die Erde, die Leben gibt und Leben nimmt. Als Mutter von Huitzilopochtli ist sie dem Himmel, als männlicher Teil und Vater, gegenübergestellt. Sie ist das Ungeheuer, das die Sonne am Abend verschlingt und am Morgen wieder gebiert. Sie steht im engsten Kontrast zu dem Gott des Todes und der Unterwelt. Die 2,52 m hohe Skulptur aus Andesitgestein zeigt uns kein menschliches Wesen, sondern die Ver­körperung einer Idee. Aus dem kleinen menschlichen Kern wuchert nach allen Seiten das Tierische, das Raub­tierhafte. Die Mitte bildet ein weiblicher Oberkörper mit schlaffen Brüsten.

Von der Hüfte abwärst wird der Leib mit einem Rock aus gewundenen Schlangen verhüllt. In Nabelhöhe hängt als Pektoral an einer Kette von aufgereihten menschlichen Händen und Herzen ein Totenkopf. Die verstümmelten Arme haben die Gestalt von Schlangenrachen, die zum Angriff bereit sind, die Füße die Form von Jaguarklauen. Der Kopf dieser monu­mentalen Plastik besteht aus zwei ineinanderlaufenden Schlangenhäuptern, die symmetrisch angeordnet sind und deren gespaltene, weit heraushängende Zungen zu einer zusammenfließen. Eduard Seler sieht in den beiden Schlangenhäuptern ein Symbol für zwei Blutströme, die dem geköpften Leib der Göttin entspringen. Er verweist auf eine andere, konservativer aufgefaßte Darstellung, die Coatlicue mit einem Totenkopf als Haupt zeigt (Abb. 207). Die merkwürdige Idee, eine geköpfte Erdgöttin darzustellen, glaubt er in den aztekischen Riten zu finden, von denen überliefert ist, daß bei Festen zu Ehren der Göttin eine Frau als ihr Abbild geköpft und anschließend geschunden wurde. Das Schinden, das Abziehen der Haut, war das Sinnbild der Verjüngung der Natur. Der Vegetationsgott Xipe Totec, der Gott des Frühlings, ist stets mit der Haut eines geschundenen Opfers, die er übergestreift hat, dargestellt (Abb. 205).

Coatlicue

Die Rückseite der gewaltigen Skulptur der Coatlicue ist annähernd gleich gestaltet, nur fehlen die Brüste. Vom Gürtel, gleich einer Schließe mit einem Totenkopf, fällt ein Behang mit Schneckengehäusen, die an geflochtenen Riemen aufgereiht sind. Es ist das „Sternhüftentuch“ der Erdgöttinnen. Die Unterseite der Figur zeigt ein einge­schnittenes Relief einer Gottheit mit gespreizten Armen und Beinen. An ihre Arme und Beine sind vier Toten­schädel gebunden. Zwei infantile Häupter hält sie in den Händen. Die Meinungen über diese Figur, die eine dem Regengott ähnliche Maske trägt, gehen auseinander. Die einen sehen in der Darstellung den Todesgott, andere ein Symbol der Erdkröte, was zweifellos eher einen Zusammenhang mit Tlaloc, dem Regengott, ergibt. Welche Seite recht hat, bleibt von sekundärer Bedeutung, wesentlich ist, daß hier – und wir finden das auch beianderen Monumentalskulpturen – vom Künstler ein Detail geschaffen wurde, das niemals für die Beschauer sichtbar war. Für den Bildhauer aber durfte dieser wesentliche Teil seiner Erzählung nicht fehlen, sonst hätte sein Gebet in Stein die magischen Kräfte verloren. Hierin wird der Unterschied zwischen der abendländischen Kunst und der indianischen so deutlich sichtbar wie kaum anderswo. Es ging dem Mexikaner nicht darum, zu gefallen und den Lebenden alles zu zeigen, es kam ihm darauf an, eine Idee zu verwirklichen, die in der bilden­den Kunst vorher ganz im Bild begriffen sein mußte (Textabb. S. 107).

In formal-künstlerischer Hinsicht ist die Skulptur allein durch ihre Monumentalität und ihre symmetrische Fügung bemerkenswert. Die sakrale Feierlichkeit, die von dieser Großplastik ausgeht, übermittelt die gebän­digte, aber gleichzeitig ungeheure Kraft der Naturgewalten. Sie bannt gleichsam die dämonischen und nicht erklärbaren Mächte. Sie ist so phantastisch zusammengesetzt als nur möglich und bedient sich der unheimlichen und erdhaften Wesen, der Schlangen, um eine wirkungsvolle Assoziation zu geben. (Absichtlich wird hier eine schematische Zeichnung der Fotografie vorgezogen, um den Überblick dieser vielen tierischen und dämo­nischen Formen besser zu gewährleisten.) Wie Picasso es in seinem „Guernica“ vermied, dem Krieg Züge der Realität zu verleihen, so kam auch der Künstler hier davon ab, das Göttliche als ein reales Wesen darzustellen. Im Detail zeigt der unbekannte Meister eine präzise Exaktheit, die noch das Vorbild der Natur erkennen läßt, es aber stilisiert wiedergibt. Mit dem ganzen Bild aber steht er in einer jenseitigen, göttlichen Welt. Die einzige Erläuterung zu diesem phantastischen Gebilde findet sich im Mythos, der von der Erdgöttin berichtet, daß sie an allen Gelenken Augen und Mäuler hatte, mit denen sie beißen konnte. Zuweilen schrie sie des Nachts und verlangte nach Menschenopfern. Sie kam nicht eher zum Schweigen, brachte nicht eher Frucht, bis die Menschen ihr den Wunsch erfüllten. „Was dieses Hauptwerk der Azteken: die Coatlicue, von der Venus von Milo unterscheidet, ist nicht allein die Darstellungsweise, vielmehr die verschiedene Vorstellung, die der Azteke und der Grieche vom Wesen einer Gottheit haben. Weil das metaphysische Erlebnis, aus dem heraus gebildet wird, so durchaus anders ist, entstehen Werke, die auch künstlerisch einer völlig anderen Konzeption entstammen.“ (Paul Westheim). (Paul Westheim: „Das Pantheon des Maises“, erschienen in „Kunstwerk“, Nov./Dez. 1959.)


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